Lives of the Unconscious

Lives of the Unconscious

Podcast on Psychoanalysis and Psychotherapy

Folge 77: Was Armut mit uns macht.

Rätsel des Unbewußten

Episodenbeschreibung:
Was bedeutet es für die Psyche eines Menschen, arm zu sein? Wie wirken Erfahrungen von Armut und sozialer Ausgrenzung über Generationen hinweg nach, auch in Familien, denen der soziale Aufstieg gelungen ist? Warum sind Abstiegsängste so destruktiv und oftmals mit extremistischen politischen Einstellungen verbunden? Und: welchen Beitrag kann die Psychoanalyse leisten, damit sich Menschen aus dem Zirkel von Armut und sozialer Ausgrenzung befreien?

Literaturempfehlungen:

  • Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Fromm, E. (2019). Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Gießen: Psychosozial.
  • Haubl, R. (1999). Zur Psychodynamik des Geldes – Unbewußte monetäre Phantasien. Psychoanalyse im Widerspruch 21, 29–43.
  • Morgan, D. (2019). The Unconscious in Social and Political Life. Phoenix Publishing House.
    – Ryan, J. (2017). Class and Psychoanalysis: Landscapes of Inequality. London: Routledge.
  • Spangenberg, N. (1994). »Mitten in der erregendsten Fülle machtlos entbehren zu müssen.« Die Auswirkungen von Armut auf die familiäre Sozialisation. psychosozial 57, 71-85
  • Wirth, H.J. (2022). Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit.

Weitere Empfehlung:
James Flynn: Warum unsere IQ-Niveaus höher sind als die unserer Großeltern

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Intermezzo / Outro: Wastlander: Lamentation (licenced via soundstripe)
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Copyright (Text, Audio, Cover): C. Loetz & J. Müller

7 thoughts on “Folge 77: Was Armut mit uns macht.”

  1. In Bezug zu dem angegebenen Beispiel möchte “ich” auf die Praxis in der DDR (die leider auch (nicht ideell aber real) Züge des vorangegangenen “Nationalsozialismus” hatte) hinweisen, höhergebildete Familien in Plattenbauten der (bei “uns” sogenannten) Unterschicht unterzubringen (was im Westen in der Jugendzentrumsbewegung in Ansätzen erfolgt ist und nicht unbedingt zu Höchstleistungen geführt hat). Denn wie eine chinesische Weisheit sagt (I Ging): “Es ist wichtiger, dass tausend Mann einen Schritt tun, als dass ein Mann tausend Schritte tut.”
    “Unsere” Wirk-lich-keit ist da eher noch der Abgrenzung (z.B. durch “Die feinen Unterschiede” (Bourdieu)) und des Krieges “Jeder gegen jeden” (Hobbes) verhaftet, was aber auch wiederum eine Bedingung für “unsere” Hochleistungen auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiet ist ((rel.)Wohlstand z.B.).
    Menschliche Aggression – so abstrakt oder konkret sie auch sein mag – in diesem Sinne – ist – meiner Ansicht nach – immer eine Folge abgewehrter Hilflosigkeit (der wir alle ja einmal ausgesetzt waren), daher auch ein nicht zu bewältigendes, höchstens (möglichst unschädlich(?)) zu kanalisierendes Problem, was man (frau) auch “Kultur” oder Lebenskunst nennt – mitunter ohne sie zu haben.
    Zum letzten Teil des Podcasts (Macht) möchte ich lieber nichts sagen, hier kann die Geschichte sprechen.

  2. Hi ihr beiden, ich möchte gern von meinen Erfahrungen mit Armut berichten.

    Ich bin Jahrgang 56, geboren und aufgewachsen in der DDR. Meine Vorfahren waren alles arme Leute: Häusler, Fabrikarbeiter, Färber, Steinsetzer, Wäscherinnen … Ab unserer Elterngeneration hatten wir theoretisch alle die gleichen Chancen auf Bildung, was nicht heißt, dass damit ein höheres Einkommen gegeben gewesen wäre. Ein Fabrikarbeiter verdiente meist mehr als ein Unidozent. Praktisch wurden Arbeiter- und Bauernkinder bei der Verteilung von Oberschul- und Studienplätzen bevorzugt. Mein Vater z.B. musste als Arbeiterkind nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nicht um einen “gesellschaftlichen Aufstieg” kämpfen. Wer in der noch jungen DDR halbwegs helle war, wurde von vielen Seiten ermutigt und gedrängt, sein Abitur an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät nachzuholen und ein Hoch- oder Fachschulstudium zu absolvieren. Das hieß aber nicht, dass diese Leute sich von “ihrer Klasse” entfremdet oder sich unter den neuen Kollegen als Außenseiter gefühlt hätten (von denen schließlich viele ebenfalls aus der Arbeiterklasse kamen).

    Solch ein Klassen- oder Statusdenken ist mir völlig fremd, selbst jetzt noch. Klar gab es Stadtviertel, in denen überwiegend weniger gebildete Leute wohnten, und es gab Eigenheimviertel, wo die Wohlhabenderen zu finden waren. Trotzdem ist das auch heute noch weitgehend durchmischt, auch an den Schulen. Klar stand in den Klassenbüchern hinter dem Namen jedes Schülers ein Kürzel für seine Herkunft: A(rbeiter), B(auer) oder I(ntelligenz). Das hatte aber hauptsächlich für die Delegierung an die Erweiterte Oberschule (= Gymnasium) Bedeutung, denn dafür gab es A/B-Quoten.

    Ich selber habe praktisch wieder einen “Abstieg” hingelegt, indem ich es nach dem Abitur abgelehnt habe, in der DDR zu studieren. Das hatte überwiegend persönlich-psychische Gründe, teils aber auch politische und ideelle. Ich gehörte zur Hippiegeneration, und unserer Szene war ein ungeheurer Idealismus zu eigen. Wir sind damals fast alle als Ungelernte in soziale Berufe gegangen, ich z. B. als pflegerische Hilfskraft (ich hatte ja bloß Abi, nichts gelernt) in kirchlichen Alters- und Pflegeheimen. Das bedeutete den untersten Mindestlohn in der DDR. noch nicht mal 300 Mark. Aber uns war das Geld egal! Mir war und blieb es lange Zeit egal. Was allerdings nicht allzu riskant war, da Mieten und Grundnahrungsmittel für jeden erschwinglich und unsere Renten gesichert waren.

    Nach der Wende änderte sich das allmählich. Mir ist auch heute noch meine freie Zeit und Selbstentfaltung wichtiger als das Geld. Ja, ich bin arm. Ich habe keinerlei Ersparnisse, wurde kurz nach dem Beginn meiner Selbstständigkeit als freiberufliche Literaturübersetzerin (ohne Studium) in die unsägliche “Bedarfsgemeinschaft” meines dauerarbeitslosen Ehemannes gezwungen (mal abgesehen davon, dass Literaturübersetzer auch unterirdisch bezahlt werden) und werde jetzt ab November als Altersrentnerin von 650 Euro Rente plus 125 Euro Sozialhilfe leben.

    Ich kann davon leben. Die einzigen Probleme, die ich mit der Armut habe, sind praktischer Art: dass ich mir vieles nicht leisten kann, was ich möchte oder brauche, dass ich nicht reisen kann usw. Das ist auf Dauer schon frustrierend. Minderwertigkeitsgefühle aber habe ich deswegen nicht. Ich hätte ja einen anderen Lebensweg einschlagen können, doch ich habe meine Prioritäten bewusst gesetzt. Ich habe mich mein Leben lang mit vielen Dingen beschäftigt, geistigen und künstlerischen, ich weiß, dass ich intelligent und begabt bin – weshalb sollte ich mich einem Akademiker unterlegen fühlen? Eher im Gegenteil: Gegenüber weniger gebildeten Leuten habe ich von jeher das Gefühl, mich “kleiner” machen zu müssen, meine Bildung oder Intelligenz nicht raushängen lassen zu dürfen. Bei den Gebildeteren muss ich mich nicht so verstellen. Das hat aber rein gar nichts mit dem Geld zu tun, denn die haben so gut wie alle mehr Geld als ich. 🙂

    Nur, dass ich in den 90ern und 2000ern zweimal die Aussicht auf ein ersehntes Studium (einmal Landschaftsarchitektur, einmal Psychologie) begraben musste, weil ich keine Ersparnisse hatte, um mich und meine Familie davon ernähren zu können, tut mir heute leid. Aber was soll’s – jetzt bin ich Rentnerin und kann mich neben dem Sticken und Designen dank eures Podcasts und eurer Literaturempfehlungen ausgiebig mit der Psychoanalyse beschäftigen.

    Meine Töchter haben wiederum einen “Aufstieg” hingelegt, auch finanziell. Ich würde mich selbst als finanziell arm, aber als geistig und psychisch reich bezeichnen.

    In den Plattenbauten der DDR wohnten übrigens nicht unbedingt höher gebildete Familien, wie mein Vorkommentator behauptet. Die Mieten dort waren doppelt bis dreifach so hoch wie im Altbau, aber der Wohlstand hing, wie gesagt, nicht von der Bildung ab. Ich als poplige Altenpflegerin oder Briefträgerin hätte mir so eine Wohnung nicht leisten können (und erst recht nicht wollen), aber ein Fabrikarbeiter oder eine Handwerkerin durchaus.

  3. Ein so wichtiges Thema, das in der Psychologie nur am Rande Aufmerksamkeit erhält. Vielen Dank für diese wichtige Folge und für das Explizieren des oft nur diffus Wahrgenommenen.
    Dazu passend (und große Leseempfehlung) auch die Autosoziobiographien von Édouard Louis, Annie Ernaux und Didier Eribon. Und auch: Joanna Ryans Arbeiten zu psychoanalytischen Betrachtungen des Habitus-Konzeptes von Bourdieu (‘Bourdieu with feelings’).

  4. Ich finde diese Podcastfolge (bei aller Einfühlsamkeit in die Befindlichkeit armer Leute) etwas einseitig auf sozialen Aufstieg fixiert. Da aber im Kapitalismus zwar jeder reich werden kann, aber nicht alle (zit. nach Volker Pispers), wäre es vielleicht hilfreicher gewesen, dem Stolz der Armut, das heißt mit wenig zurechtkommen zu können (der übrigens auch unter sehr Reichen nicht selten war), etwas mehr Raum zu geben?

  5. Tintenteufelchen

    Vielen Dank für diese wertvolle Podcast Folge zu einem wichtigen Thema. Als die Abschlussmelodie ertönte hatte ich witzigerweise sofort ein Bild von einem Klavier in einer schicken Altbauwohnung mit glänzendem Holzparkett, grossen Flügelfenstern und feinen Möbeln im Kopf und mir kam der Gedanke dass ich genau auch dieses Bild mit “Psychoanalyse Praxis” und “Psychotherapeut*innen Praxis” verbinde.. Das sagt natürlich einiges über mein Bild dieses Berufes und dem “Aufschauen” zu diesem Berufsstand aus. Was mir fehlt im Podcast ist ist die Erwähnung welche enormen (Geld-)ressourcen man benötigt für die Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeut*in. Was dazu führt, dass leider nur bestimmte Personengruppen überhaupt diese Berufsausbildung machen, was sicherlich erschwert dass Therapeut*innen einnen “armutssensiblen” Blick haben.

  6. Eine Podcast-Folge mit stärkerer politischer Bedeutung als andere Folgen (evtl. sogar mal als Schullektüre?), was man schon allein an der höheren Zahl von Kommentaren sieht. Es wurde die Problematik sozialen Aufstiegs in der nächsten Generation beschrieben, in jüngster Zeit wäre noch eine Zusatzfolge für den sozialen Abstieg notwendig – da dieser noch problematischer ist.

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